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Herr Mut und die Fliegenden Rheinschiffe (6)

Die meisten Menschen hatten noch nie eine Begegnung mit einem Geist, zumindest glauben sie das. In Wirklichkeit haben sie sogar sehr häufig solche Begegnungen, und damit meine ich nicht nur Ideengeister wie mich. Damit meine ich echte Geister. Es gibt sehr viele Geister, vor allem Naturgeister, die man allerdings selten in einer Stadt antrifft. Aber es gibt auch in Städten Geister, wenngleich viel seltener, als manche Menschen es gerne glauben würden. Damit sind die sogenannten erdgebundenen Geister gemeint, die aus irgendeinem Grund sich nicht aus ihrem diesseitigen Leben lösen können, jedenfalls nicht vollständig.
Und dann gibt es noch die Geister, die sich lösen könnten, wenn sie denn wollten. Aber sie wollen halt nicht.
Zu dieser Sorte, und zwar zu der unangenehmsten, gehörten die Piraten auf den Fliegenden Rheinschiffen. Die Seelen von Wikingern, dereinst auf der Suche nach plünderungswerten Schätzen, gelangten sie mal auf den Rhein, damals noch ohne zu fliegen. Das mit dem Fliegen kam erst hinzu, als sie zu Geistern wurden, nicht direkt freiwillig, wie das meistens so ist.
Als Ideengeist habe ich keinen Grund, irgendjemanden zu fürchten. Höchstens eine schlechte Idee, aber das ist ein anderes Thema. Allerdings musste ich an schlechte Ideen denken, während wir nach Linz zurückwanderten, diesmal ganz normal, will heißen, auf der Straße, an den Schienen entlang. Die B42, auf der anderen Seite der Gleise gelegen, wurde gelegentlich von einem Auto befahren, oder von einem LKW von DHL. Von diesen gab es viele, aber das war um diese Zeit normal, glaube ich. Meinte mich so zu erinnern. Um ehrlich zu sein, war es mir eigentlich egal, denn ich dachte über das bevorstehende Treffen mit Soger nach. Das konnte ja durchaus unangenehm werden.
„Sie sind so still, Herr Mut!“, stellte die mit wehendem Rock neben mir hereilende Lola fest.
„Wundert dich das?“
„Nein … nicht wirklich. Duzen wir uns jetzt? Ich habe nichts dagegen!“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, murmelte ich. „Es war ein Versehen. Um ehrlich zu sein, habe ich auch nichts dagegen. Ich duze nur sehr selten jemanden. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob ich von diesem Prinzip bei Ihnen abweichen sollte.“
„Offenbar nicht.“
Ich schwieg. Erstens erreichten wir Dattenberg, zweitens wusste ich nicht so recht, was ich darauf antworten sollte. Es war nun einmal ihre Hexenkraft, die mich so verwirrte. Trotz des Tees. Nun ja, der Grund war ja bekannt und nicht überraschend, andererseits empfand ich es als durchaus ungerecht, dass ihr Zauber bei mir wirkte, der Tee jedoch nicht. Da hatte jemand nicht wirklich gut nachgedacht.
Von Dattenberg gingen wir hinunter zu den Anlegestellen. Natürlich lag hier keins der Piratenschiffe an. Zumindest für gewöhnliche, will heißen, lebende Menschen. Ich glaube, Fiona könnte das sogar richtig erklären, mit Verborgener Welt und Gefrorener Welt, aber sie hat damit ja ständig zu tun. Ich nicht. Genauer gesagt, habe ich damit eigentlich noch öfter zu tun, nämlich andauernd und in jeder Sekunde, aber für mich ist das als Ideengeist der absolute Normalzustand.
Wie auch immer, Lola und ich konnten zumindest eins der Piratenschiffe sehen, das an der Stelle ankerte, wo normalerweise die Kreuzfahrtschiffe anlegen.
Davor stand ein Pirat herum, sah allerdings mehr wie ein Wikinger aus. Was durchaus nachvollziehbar war. Er musterte uns jedenfalls grimmig, als wir auf ihn zuhielten.
„Was wollt ihr hier?“, blaffte er uns an.
Lola drückte meine Hand und sich an mich. Das brachte mich etwas aus der Fassung, zum Glück konnte ich dennoch halbwegs verständlich antworten: „Reden. Mit Soger.“
„Was bist du denn für einer? Kannst du nicht reden wie ein normaler Mensch?!“
„Doch. Mit Soger.“ So ein Mist! So konnte das nicht weitergehen! Ich sah Lola an. „Sie bringen mich ja noch um den Verstand!“, flüsterte ich aufgebracht.
„Das … das tut mir leid … Ich mache es ja nicht mit Absicht, sagte ich doch schon …“
„Ja, weiß ich! Machen Sie es einfach gar nicht, weder mit Absicht noch ohne!“
Oh je, Herr Mut. Das ist wahrlich keine Glanzleistung, dachte ich.
„Was habt ihr da zu flüstern?!“, fuhr uns der Pirat dazwischen. „Verschwindet!“
„Das geht nicht“, erwiderte ich. „Das heißt, natürlich geht das, aber es ist wichtig, dass wir mit Soger reden. Es geht um den Gral.“
„Was wisst ihr vom Gral?!“
„Das erzählen wir Soger, denke ich.“
„So, das denkst du?“ Er zog sein Schwert und trat näher. „Und wenn ich dich einen Kopf kürzer mache?“
„Das magst du gerne versuchen, aber es geht alles schneller, wenn du es lässt. Ich bin ein Ideengeist, du kannst mich nicht umbringen.“
„Du bist ein Ideengeist?“ Er musterte mich neugierig. „Das glaube ich dir nicht!“
„Wieso denn nicht?“
„Weil du nicht wie ein Ideengeist aussiehst!“
„Aha. Wie vielen Ideengeistern bist du denn schon begegnet, wenn ich fragen darf?“
Er stutzte, dann zuckte er die Achseln. „Keinem. Du bist jedenfalls kein Ideengeist, also verschwinde! Sie kann bleiben!“ Er starrte die Verführungshexe lächelnd an.
„Du sollst das abstellen!“, flüsterte ich ihr aufgebracht zu.
„Kann ich nicht!“, flüsterte sie genauso aufgebracht zurück.
„Himmel steh mir bei!“, entfuhr es mir, dabei müsste ich es eigentlich besser wissen.
„Herr Mut, daran glaubst du?“
„Nein! Sei jetzt still!“ Ich wandte mich an den Piraten, der immer wütender wirkte. „Hör zu, du Pirat, ich habe keine Zeit für so was. Ich muss mit Soger reden! Lässt du uns durch?“
„Nein!“
„Na schön. Du wurdest gewarnt.“ Ich trat zu ihm, hob ihn hoch und warf ihn ins Wasser. Seltsam, dass niemand einem Ideengeist zutraut, Kraft zu haben. Nur weil sie fast immer sehr friedfertig sind? Ha! Ideengeister sind keine Musen, sie sind ganz besondere Geister, sie gehören zu den ältesten Geistern überhaupt. Das hat seinen Grund.
„Herr Mut! Was tust du da?“
„Ich habe es schon getan“, erwiderte ich und nahm ihre Hand. „Komm mit! Mir reicht es!“
Wir betraten das wankende, knarrende Schiff. Zum Glück hatte ich keinen empfindlichen Magen. Hoffentlich Lola auch nicht. Ich starrte sie forschend an. Sie wirkte nicht anders als immer. Ob das gut war, dessen war ich mir nicht ganz sicher.
Doch es gab jetzt Wichtigeres.
Wir fanden Soger in seiner Kabine, nachdem wir einigen Wikingergeistern aus dem Weg gegangen waren. Für Geister waren diese Burschen erstaunlich unbedarft. Na ja, wer weiß, was sie in den letzten 200 Jahren getrieben hatten. Oder eben auch nicht getrieben.
Soger war allein. Er stand vor einem runden Tisch und hielt einen Becher in der Hand. Die schulterlangen Haare lagen auf den breiten Schultern. Er trug ein graues Seidenhemd, eine weite, schwarze Hose und hohe Stiefel, ebenfalls schwarz.
„Was ist?“, blaffte er, ohne sich umzudrehen.
„Wir müssen mit dir reden“, erwiderte ich.
Jetzt fuhr er herum.
„Wer seid ihr denn?“
Er hatte graue Augen. Eigentlich sah er nicht schlecht aus.
Könnte Lola ihre Kräfte nicht mal auf ihn konzentrieren? Und nur auf ihn? Das würde unsere Aufgabe möglicherweise sehr erleichtern.
„Mein Name ist Herr Mut, ich bin ein Ideengeist. Meine Begleiterin heißt Lola.“
Der Pirat unternahm Lola einer sehr gründlichen visuellen Untersuchung. Die schien es unangenehm zu finden und drückte meine Hand.
„Ein Ideengeist und eine Hexe? Auf meinem Schiff?“
„Gut erkannt!“, lobte ich ihn. „Es geht um den Gral.“
„Um den Gral? Was wisst ihr davon?“
„Ich habe ihn gefunden“, antwortete Lola. Am liebsten hätte ich ihr den Mund zugehalten. Wieso überließ sie das Reden nicht mir?
„Du hast den Gral gefunden?“ Soger kam näher. Er wirkte ausgesprochen interessiert, aber nicht mehr an ihren körperlichen Vorzügen. Er war doch nicht etwa immun gegen ihre Kräfte? Das hätte ich ausgesprochen unfair gefunden. „Wo ist er?“
„An einem sicheren Ort“, übernahm ich wieder die Gesprächsführung.
„Dich habe ich nicht gefragt!“
„Das ist mir schon klar, aber du wirst mit mir reden müssen. Ich bin ein Ideengeist und sie steht unter meinem Schutz. Du weißt, was ein Ideengeist ist?“
„Ja“, antwortete er mürrisch.
„Hervorragend. Du bekommst den Gral nicht. Er gehört den Hexen. Also könnt ihr wieder absegeln.“
„Aha.“ Er kam näher, bis wir uns beinahe berührten. Auch wenn ich keine Angst hatte, empfand ich es als unangenehm. „Und du kleiner, lächerlicher Ideengeist willst mir vorschreiben, was ich zu tun habe? Was bringt dich auf die wahnwitzige Idee, mich würde interessieren, was du denkst, fühlst, glaubst, sagst?! Was?!“
Er schien etwas cholerisch veranlagt zu sein.
Ich trat einen Schritt zurück, insbesondere wegen seiner feuchten Aussprache, wenn er sich aufregte.
„Nun, wie ich schon sagte, bin ich ein Ideengeist. Du kannst mir nichts antun.“
„Glaubst du?“ Er verzog den Mund zu einem grimmigen Lächeln und ging zum Tisch, um sein Glas aufzufüllen, das er vorhin auf den Tisch gestellt hatte. „Nun, du magst recht haben, dir kann ich nichts antun. Aber wie sieht es aus mit deiner kleinen Freundin? Oder den Menschen in Linz? Vielleicht lasse ich die einen nach dem anderen herkommen und kielholen. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis du mir sagst, was ich wissen will. Und mit ihr fangen wir an!“ Er deutete auf Lola, die nachdrücklich heller im Gesicht wurde. Sehr viel heller.
„Du lässt deine Geisterpfoten von ihr oder es gibt was auf Selbige!“, erwiderte ich aufgebracht.
„Oh, mir scheint, sie verfehlt ihre Wirkung auf dich nicht. Nun, und wie ist es mit den Menschen in dieser Stadt? Wie heißt sie noch? Ach, ist mir egal. Irgendeine Stadt halt. Würdest du dabei zusehen, wie sie den Hintern meines Schiffs küssen? Das wäre ein Spaß! Bei uns selbstverständlich nur längsschiffs!“
„Das wagst du nicht!“
„Finde es doch heraus!“
„Mir scheint, du bist dir nicht im Klaren darüber, dass du dich im 21. Jahrhundert befindest.“
Er zuckte die Achseln. „Was hat das schon zu bedeuten? Wir sind Geister!“
„Oh ja, nur glaubt niemand mehr an euch. Die Menschen sind aufgeklärt, sie glauben an die Vernunft und an die Wissenschaft, nicht an irgendeinen Geisterhokuspokus!“
Lola starrte mich von der Seite ungläubig an.
„Ach ja? Ich bin vorhin mal durch die Stadt gegangen, das sah nicht so aus, als würde niemand an uns glauben! Vielleicht sind einige inzwischen so vernünftig und ungläubig geworden, aber die meisten haben uns gesehen!“
Das wäre nicht gut, wenn das stimmte. Menschen, die Geister sehen können, sind von Geistern manipulierbar. Ich befürchtete, mich soeben zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben, als ich die Menschen vernünftig und wissenschaftsgläubig nannte. Im Grunde wusste ich es ja auch besser. Aber dieser Pirat sollte eben etwas anderes glauben.
„Also schön!“, sagte Soger. „Ich gebe euch eine Gelegenheit, die Menschen zu retten! Bis morgen, wenn die Sonne wieder untergeht, warte ich noch! Bringt mir bis dahin den Gral, dann geschieht niemandem etwas! Andernfalls …“
Ich dachte nach. Mir gefiel das Ultimatum nicht wirklich, aber es verschaffte uns Zeit, einen funktionierenden Plan auszuarbeiten. Für einen Ideengeist ist ein fast ganzer Tag eine kleine Ewigkeit. Es gab allerdings einen besonderen Grund, warum mir das Ultimatum, vielmehr Sogers Hartnäckigkeit, nicht gefiel.
„Warum willst du überhaupt den Gral haben? Für dich ist er doch wertlos.“
„Ist er das?“ Er hielt das volle Glas hoch, dann trank er es in einem Zug leer. „Nun, da irrst du dich, großer Ideengeist! Dieser Gral wurde einst von sehr mächtigen Hexen geschmiedet im Feuer der Ewigen Jugend. Lange habe auch ich gedacht, es wäre nett, ihn zu haben. Doch inzwischen weiß ich, welche Macht er tatsächlich besitzt. Ideengeist, dieser Gral wird uns das Leben schenken! Wir werden wieder leben, nicht mehr als Geister, die kaum jemand fürchtet, über den Rhein jagen, nein, wir werden echte, lebende Piraten, heldenhafte Wikinger, deren Namen in wehklagenden Liedern erklingen werden, in den Kehlen derer, die eine Begegnung mit uns überleben, und davon wird es wahrlich nicht viele geben!“
Er war wahnsinnig geworden. Können Geister überhaupt wahnsinnig werden? Offenbar schon.
Es wäre eine Katastrophe. Er und seine Leute hätten nicht die geringste Chance gegen die moderne Technik der Bundeswehr und der Polizei, doch würde es ein Blutvergießen ohnegleichen geben. Das konnte ich nicht zulassen.
„Komm, Lola.“ Ich nahm die Hand der Verführungshexe und verließ mit ihr das Schiff. Glücklicherweise war sie gar nicht in der Lage, etwas zu sagen, so erschüttert und verängstigt war sie. Das war auch besser so.
Sie sagte immer noch nichts, als ich mit ihr zum Café Kitsch ging. Es wurde Zeit für Chili Bird´s Eye. War sowieso alles fast egal.