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Herr Mut und die Fliegenden Rheinschiffe (10, finale Folge)

Das Café war leer. Das lag vermutlich an der Uhrzeit. In der Küche hörte ich jemanden werkeln, vermutlich Kerstin. Ich dirigierte meine Begleiterinnen zum Fenstertisch. Für Anfang Mai war es irgendwie kühl und der feine Nieselregen machte es nicht besser, aber dafür waren wir jetzt unter einem Dach.
„Ich komme sofort!“, rief jemand mit Kerstins Stimme aus der Küche.
„Wir haben Zeit!“, erwiderte ich.
Das war gut geeignet, Kerstin sofort aus der Küche stürmen zu lassen.
„Herr Mut! Mit Ihnen habe ich schon viel früher …“ Sie wurde augenscheinlich meiner Begleitung gewahr, denn sie blieb wie angewurzelt stehen. Lola kannte sie ja bereits, aber Linda nicht. Und sie sah durchaus ungewöhnlich aus, obwohl sie ganz gewöhnliche Jeans und einen Pullover, alles in Schwarz, trug. Aber sie sah trotzdem ungewöhnlich aus.
„Möchten Sie etwas trinken und Kuchen essen?“, fragte Kerstin, nachdem sie ihre Fassung wiedererlangt hatte.
Ich bestellte eine Trinkschokolade, Chili Bird´s Eye, und eine Schokotarte. Ich hatte nämlich bereits beim Eintreten gesehen, dass noch welche da war. Darauf freute ich mich bereits.
„Chili Bird´s Eye?“, wiederholte Kerstin erstaunt.
„Ja. Ich habe meine Liebe zu dieser Sorte entdeckt und außerdem denke ich, dass nichts mehr passieren könnte, wenn ich sie trinke, was mich erschüttern würde, nach den Ereignissen.“
„Genau, die Ereignisse! Auf einmal war alles fort!“
„Ja, das waren diese und weitere entzückenden Damen“, erklärte ich.
„Herr Mut, jetzt tue doch nicht so bescheiden“, sagte Lola lachend. „Du hattest durchaus einen sehr bedeutenden Anteil daran! Immerhin war es deine Idee!“
„Was war Ihre Idee?“ Verständlicherweise war Kerstin ziemlich neugierig.
„Ich schlage vor, Sie setzen sich zu uns, dann erzählen wir, wie es sich zugetragen hat.“
„Äh, ja, sicher. Was möchten die Damen denn?“
„Ich trinke einen Cappuccino“, sagte Lola. „Und ich denke, ich kann bestimmt von Herr Muts Schokotarte …“
„Nein!“
Lola starrte mich verwirrt an, dann schüttelte sie den Kopf und bestellte eine eigene Schokotarte. Bei aller Liebe, aber das wäre eindeutig zu weit gegangen.
Linda wollte nur einen Cappuccino haben.
Nachdem Kerstin alles aufgetischt hatte, setzte sie sich auf den einzigen freien Platz, neben Linda, Lola gegenüber. Für sich hatte sie einen Milchkaffee gemacht.
„Jetzt will ich aber zuerst einmal wissen, wer Ihre zweite Begleiterin ist, Herr Mut“, sagte sie dann.
„Selbstverständlich. Zu Ihrer Linken sitzt Linda Reise, sie ist eine Kampfhexe. Normalerweise hat sie auch ihr Schwert dabei, doch Lola und ich konnten sie davon überzeugen, diese geliebte Tradition für den Besuch bei Ihnen auszusetzen.“
„Eine gute Idee“, sagte Kerstin. „Ich mag keine Waffen in meinem Café.“
„Ich bin eine Waffe“, bemerkte Linda, aber sie konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
„Dann kennen Sie bestimmt auch Fiona?“
„Leider nein. Herr Mut hat von ihr erzählt und ich wäre in der Tat sehr interessiert daran, sie mal zu treffen, aber bislang wusste ich nicht einmal, dass es sie gibt.“
„Nun gut. Und jetzt möchte ich wissen, was eigentlich geschehen ist, nachdem ihr beide gegangen seid.“
„Dann haben wir Pizza gegessen.“
„Herr Mut!“, rief sie. „Jetzt machen Sie es doch nicht so spannend!“
„Also gut, ich werde brav sein. Nachdem wir also wieder bei Maria waren und ihr den Plan vorgetragen haben, konnte sie sich durchaus für ihn begeistern. Es gab nur ein kleines Problem dabei, wie es sich dann zeigte: Aufgrund der Walpurgisnacht kamen nur vier Hexen statt 100.“
„Oh!“, rief Kerstin.
„Ja, so ähnlich ging es mir auch, als ich das feststellte“, nickte ich bekümmert. „Doch letztlich spielte es keine Rolle, wir mussten mit dem zurechtkommen, was da war. Also sechs Hexen und ich.“
„Ich nehme an, Linda war eine von den sechs?“
„Genau so ist es, Kerstin. Ursprünglich hatte ich nicht vor, bei der Beschwörung mitzuwirken, aber unter den geänderten Umständen sah ich mich gezwungen, meine Meinung anzupassen. Letzten Endes funktionierte alles wie geplant. Soger erklärte sich mit unserem Vorschlag einverstanden und wir haben dann ihn und seine Leute wieder in lebendige Menschen verwandelt und alles war gut.“
Kerstin starrte mich an. „Das kann doch nicht alles gewesen sein! Die ganze Aufregung für nichts?“
„Herr Mut liebt Understatement“, bemerkte Linda amüsiert. „Tatsächlich gab es schon etwas Aufregung. Zum Beispiel ist es so, dass Menschen nicht auf Geisterschiffen stehen können, sie ja nicht einmal sehen. Also plumpsten die Piraten alle der Reihe nach ins Wasser, nachdem sie zum Leben erwacht waren, denn wir haben den Zauber natürlich auf einem der Schiffe durchgeführt.“
„Und dann? Was passierte danach?“
„Nun, sie schwammen ans Ufer. Einige von ihnen auf der Linzer Seite und wurden dort von der Polizei einkassiert, die wie zufällig zur Stelle war. Die meisten schafften es allerdings, auf die Kripper Seite zu entkommen, oder sie schwammen gleich rheinabwärts, bis irgendwohin. Wenn also demnächst in Köln oder Bonn von seltsamen, offensichtlich verwirrten Menschen in Piratenkostümen berichtet wird …“ Ich machte eine bedeutungsschwangere Pause. Genau genommen, erzählte ich einfach nicht weiter.
„Und Soger? Was ist mit Soger?“, fragte Kerstin. „Und die Schiffe? Sind sie noch da?“
„Ach ja, unser Piratenkapitän“, sagte ich langsam. „Nun, er schaffte es, etwas weiter rheinaufwärts an Land zu schwimmen. Ganz bis nach Leubsdorf hat er es nicht geschafft. Aber wir haben bereits auf ihn gewartet. Er genießt jetzt die Gastfreundschaft von Maria. Zuerst hat er ein wenig getobt, aber dann hat Linda ihn freundlich überredet, das bitte zu unterlassen. Er hat es dann auch eingesehen.“ Ich sah aus dem Augenwinkel Lindas Grinsen, was vermutlich daran lag, dass ich diesen Teil etwas verkürzt wiedergegeben hatte. Ich dachte jedoch, dass sich Kerstin auch so denken konnte, wie unangenehm dieses Überreden für Soger war. „Am Ende haben wir uns darauf geeinigt, dass Soger bei Maria Nana bleibt. Wir konnten ihm deutlich machen, was ihm alles zustoßen könnte, wenn er in dieser modernen Welt ohne Hilfe Ausflüge unternimmt. Insbesondere ein Computer mit Internet war dabei sehr hilfreich. Er wird also bei ihr einziehen, sozusagen ein Neffe aus fernen Ländern, der für einige Zeit bei ihr zu Besuch ist. So für ein halbes Jahr. Vielleicht auch länger. Dabei hat er sich an einige klare Regeln zu halten. Dadurch haben wir eine Win-Win-Situation. Er kommt nicht ins Gefängnis oder in die Psychiatrie und Maria hat jemanden für … Was die Schiffe angeht: Diese wurden von Waldfee Liane wieder dem Wald zugeführt. Sie sehen, alles in bester Ordnung.“
Kerstin starrte mich etwas irritiert an. „Welche Aufgabe hat Soger bei Maria Nana? Sie haben vergessen, den Satz zu beenden.“
„Das habe ich keineswegs vergessen“, erwiderte ich.
„Doch, ich bin mir ganz … Oh! Jetzt habe ich verstanden! Okay, alles klar. Aber eine Frage habe ich noch.“
„Noch eine?“
„Wie meinen Sie das? So viele Fragen hatte ich doch … Sie vera… scherzen ja schon wieder, Herr Mut. Können Sie dabei nicht wenigstens lächeln?“
„Ich werde mir in Zukunft Mühe geben, daran zu denken“, antwortete ich. „Was möchten Sie denn wissen?“
„Wie geht es denn mit Lola und Ihnen weiter? Oder ist Linda …?“
„Wie, was? Nein, nein! Ich heiße doch nicht Fiona. Linda wollte Sie mal kennenlernen und hat gerade keine dringenden Pläne. Was Lola und mich angeht … Nun, das ist eine schwierige Angelegenheit. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir uns gegenseitig mögen, dass es aber nicht gut wäre, wenn wir daraus etwas Ernstes machen würden. Das … das würde zu diversen Komplikationen führen. Wir werden … äh … eine besondere Art der Fernbeziehung nach der Art von Hexen und Ideengeistern führen. Ob wir uns dann einmal im Jahr oder einmal pro Jahrhundert treffen, wird sich zeigen.“
„Monatlich wäre mir lieber“, bemerkte Lola.
„Oh“, sagte Kerstin. „Sie haben sich geeinigt?“
„Jaaa … Herr Mut hat wirklich gute Argumente vorgebracht, und ich verstehe ja seine Bedenken wirklich und ich weiß ja auch, dass ich ihm nicht gleichgültig bin und dass alles nicht so einfach ist. Aber monatlich wäre mir dennoch lieber!“
„Nun“, sagte ich und räusperte mich. „Es wurde ja nichts darüber gesagt, wann das erste regelmäßige Treffen vorbei ist. Noch sitzen wir ja zusammen hier, nicht wahr?“
„Oh ja!“, antwortete Lola strahlend.
Ich hatte plötzlich eine Idee. Als Ideengeist konnte mir das schon mal passieren.
„Wartet hier“, sagte ich also, erhob mich und verschwand, nachdem ich mich überzeugt hatte, dass uns gerade niemand durch das Schaufenster beobachtete. Wenige Minuten später kehrte ich wieder und hielt einen Strauß Rosen in den Händen, den ich Lola überreichte. „Ich denke, daraus kannst du viel Tee machen, meine Liebe. Solange der Tee reicht, dauert unser Treffen für diesen Monat, dieses Jahr oder Jahrhundert. Einverstanden?“
„Aber … aber … Ja, natürlich bin ich einverstanden!“ Es fiel Lola sichtbar schwer, nicht aufzuspringen und dann etwas zu machen, wovon wir die Verabredung getroffen hatten, es nicht in der Öffentlichkeit zu machen. Küssen wäre zwar eine Ausnahme gewesen, aber vielleicht doch zum jetzigen Zeitpunkt unangebracht.
„Ich denke“, sagte Kerstin, nachdem sich alle beruhigt hatten, „dann hat sich ja alles irgendwie zum Guten gewendet. Ich muss zugeben, für mich ist es ungewohnt, Hexen in meinem Café zu bewirten, aber …“
„Eigentlich nicht“, unterbrach Linda sie.
„Wie bitte? Ach so, ja, natürlich, aber sonst weiß ich es ja nicht. Jedenfalls war das alles aufregend und ich wünsche mir, dass es sich nicht oft wiederholt. Vielleicht könnte es jetzt ja für mindestens zwei Jahre ganz ruhig bleiben und alles normal laufen.“
„Und in zwei Jahren?“, erkundigte sich Linda mit großen Augen.
„In zwei Jahren darf wieder etwas Aufregendes passieren. Nicht zu aufregend, aber ein bisschen aufregend ist in Ordnung.“
„Das wäre also der 2. Mai 2021? Und bis dahin alles ganz normal?“
„Ja, so in etwa“, nickte Kerstin. „Was denken Sie, Herr Mut?“
„Nun, ich kann Ihnen das nicht versprechen. Ich bin ein Ideengeist, wir kennen die Zukunft nicht. Ich weiß nur, dass es in der Geschichte der Menschheit immer schon unterschiedliche Epochen gegeben hat. Oft war es über Jahrhunderte relativ ruhig, dann passierte wieder sehr viel, dann lange wieder nichts. Das 20. Jahrhundert war sehr unruhig, doch ich fürchte, das war nur der Anfang. Ich kann Ihnen nicht sagen, was noch passieren wird, doch meine Erfahrung aus den vergangenen Jahrtausenden sagt mir, dass wir, das heißt, die Menschen, erst am Anfang großer Veränderungen stehen. Aber nehmen Sie bitte das nicht zu ernst, Kerstin, letztlich ist das nur das Gerede eines alten Geistes, der zwar bereits viel erlebt hat, aber dennoch immer wieder überrascht davon ist, zu was die Menschen fähig sind. Im Guten wie im Schlechten.“
„Oha, Herr Mut, das war ja eine ungewöhnliche Rede von Ihnen. Sollte ich mir etwa Sorgen machen?“
„Ich hoffe nicht. Und im Übrigen denke ich, dass Veränderungen nicht grundsätzlich schlecht sein müssen. Die Veränderung selbst mag auch unangenehm sein, weil das Gewohnte nicht mehr selbstverständlich ist, doch irgendwann entstehen neue Gewohnheiten, die vielleicht besser sind. Die Industrielle Revolution hat letztlich dafür gesorgt, dass es vielen Menschen besser geht als davor. Kein Grund, zufrieden zu sein, denn es gibt immer noch viel zu viele Menschen, denen es nicht gut geht. Aber es ist eine Chance. Menschen lieben den Krieg und sehnen sich nach dem Frieden, das ist ihr größter Fluch. Vielleicht schaffen sie es irgendwann, ihn aufzulösen.“
„Das wäre in der Tat schön“, sagte Kerstin.
Linda sah nicht so sicher aus. „Und ich? Ich brauche den Kampf!“
„Du bist ja auch kein Mensch, sondern eine Hexe!“, erwiderte Lola lachend.
„Ja, wie wunderbar. Aber gegen wen oder was soll ich denn kämpfen, wenn die Menschen friedlich werden?“
„Oh, da würde ich mir keine Sorgen machen, dass das allzu bald passieren könnte“, bemerkte Kerstin. „Sie werden sicher noch lange benötigt.“
„Wir werden sehen“, sagte Linda und erhob sich. „Ich werde mich jetzt noch ein wenig in der Stadt vergnügen. Und ich denke, wir werden uns begegnen. Der Kaffee war wirklich sehr gut. Was schulde ich?“
„Das geht aufs Haus“, erwiderte Kerstin lächelnd.
Nachdem Linda fort war, sah sie uns an. „Ihr macht den Eindruck, als könntet ihr auch Zweisamkeit gebrauchen.“
Ich hob die Augenbrauen, konnte aber nichts dazu sagen, da Lola mir ihre Hand auf den Mund drückte.
„Komm, Herr Mut, wir folgen dieser süßen Aufforderung, ihr Lokal doch bitte zu verlassen.“ Sie grinste.
Ich sah ein, dass sie recht hatte. Wir verabschiedeten uns also, mussten aber versprechen, dass wir vorbeischauen würden, bevor der Rosentee alle war.
Das konnten wir guten Gewissens versprechen.