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Herr Mut und die Fliegenden Rheinschiffe (9)

Es würde nicht mehr lange bis zum Morgengrauen dauern, als ich vom Besenstiel stieg. Über all die Jahrtausende, die ich nun schon lebte, war ich davon ausgegangen, dass ich als Ideengeist keine Probleme mit den Augen habe und auch in der Dunkelheit gut sehen kann.
Doch dieser Glaube wurde nun zutiefst erschüttert.
„Wo sind all die Hexen?“, fragte ich verwundert. „Haben sie einen Unsichtbarkeitszauber benutzt?“
„Gibt es so was denn?“, fragte Maria Nana. „Ach, egal. Herr Mut, es betrübt mich zutiefst, aber mehr als die vier sichtbaren Hexen sind leider nicht gekommen. Es ist eben Walpurgisnacht.“
„Vier? Statt 100?“
„Leider ja. Doch an dem Plan ändert das nichts.“
„An dem Plan ändert das nichts?“, wiederholte ich, um Contenance bemüht, wohl vergeblich.
„Wir haben keine andere Wahl!“, rief Lola, die aussah, als hätte sie geweint, was mich sofort veranlasste, sie an mich zu drücken, was nicht nur Maria Nana ein Runzeln auf die Stirn zauberte.
„Ich stelle dir am besten die Hexen vor, die gekommen sind“, sagte Maria nach einer kurzen Pause. „Die Hexe, die dich hergebracht hat, ist Linda Reise, eine Linzer Hexe, eine Kampffee. Sie ist etwa 60 Jahre alt und niemand außer ihr weiß, wer ihre Eltern sind. Man munkelt, dass ihr Vater ein Bürgermeister von Linz war, aber das ist, wie gesagt, nur ein Gerücht.“
Ich musterte Linda Reise. Sie hatte etwa meine Größe, wirkte schlank und sportlich. Die dunkelbraunen, schulterlangen Haare umrahmten ihr ansprechendes Gesicht, die braunen Augen funkelten mich tatendurstig an. Sie trug schwarze Jeans, einen ebenfalls schwarzen Pullover und ein Schwert.
Maria zeigte nun auf eine andere Hexe, die etwas größer als ich war, kräftig gebaut und dunkelblond. Sie trug ein bodenlanges Kleid in Dunkelgrau.
„Das ist Rheinfee Hildegard, sie lebt schon seit 900 Jahren hier. Ihre Mutter war eine Flussfee, ihr Vater ein Landwirt aus Linz.“
Wir nickten einander zu, dann wandten wir uns einer kleinen Frau mit braunen, bodenlangen Haaren zu. Sie war noch kleiner als Maria, die bestimmt einen halben Kopf kleiner war als ich. Doch ich spürte, wie mächtig und alt sie sein musste. Sie trug ein grünes Kleid, das bis zu den Waden reichte und Stiefel.
„Waldfee Liane, ungefähr seit 4000 Jahren in den Wäldern am Rhein entlang heimisch.“
Das erklärte die Kraft, die ich bei ihr wahrnahm. Eine sehr mächtige und auch friedvolle Hexe. Schön.
Die vierte Hexe hatte etwas Dunkles, Unheimliches an sich. Sie trug die schwarzen Haare kurz, was ihr eher rundliches Gesicht betonte. Sie war ungefähr so groß wie Lola und mollig. Nicht dick, aber im Vergleich zur sehr zierlichen Liane deutlich figurbetonter. Sie trug einen grauen Blazer, eine blaue Bundfaltenhose und Stiefel und sah aus, als hätten Lola und Maria sie aus einer hochwohlgeborenen Gesellschaft hergerufen.
„Adelheid von Báthory“, sagte Maria.
„Báthory?“, wiederholte ich überrascht.
Sie nickte mir zu. „Meine Mutter war Elisabeth Báthory, allerdings übernahm ich nicht ihre Gepflogenheiten. Jedenfalls nicht alle, zumal ich auch kraft meiner väterlichen Herkunft, eines Linzer Hexenmeisters, nicht altere. Es freut mich, einen Ideengeist kennenzulernen.“
Oh, oh. Also tatsächlich eine Báthory. Das erklärte durchaus ihr Erscheinungsbild. Demnach war sie etwas mehr als 400 Jahre alt.
„Eine bunte Truppe“, sagte ich. „Wir haben es mit Soger und etwa 40 Piraten zu tun. Die es auf den Gral abgesehen haben, um wieder ins Leben zurückzukehren.“
„Maria hat uns bereits unterrichtet, weswegen wir hier sind“, erwiderte Adelheid. „Die Frage ist nun, wie wir vorgehen wollen.“
Statt einer Antwort zog Linda Reise geräuschvoll ihr Schwert.
„40 Piraten“, wiederholte ich.
Sie zuckte die Achseln.
„Wir können tote Geister nicht töten“, erklärte Hildegard.
„Und lebende?“, entgegnete Linda grinsend.
„Ach, geh mir doch nicht auf den Geist, du Jungspund! Was wir auch unternehmen, es muss sichergestellt werden, dass wir diese Plage ein für alle Mal los sind!“
„Genau“, stimmte ich hastig zu. „Und es gibt ja einen Plan, der mit 100 Hexen leichter auszuführen wäre. Aber vielleicht klappt es auch mit weniger, wenn ich mitmache.“
Linda musterte mich abschätzig.
„Sieh ihn nicht so an!“, rief Lola entrüstet. „Ich habe gesehen, wie er einen der Piraten ins Wasser warf.“
„Aha.“
„Schluss jetzt, streitet euch nicht“, mischte sich Maria ein. „Ich denke, wir haben keine andere Wahl. Unser Plan ist, dass wir mit der Macht des Grals die toten Piraten zu lebenden Flüchtlingen machen, die kein Unheil mehr anrichten können. Dann müssen wir nur noch ihre Schiffe verschwinden lassen.“
„Darum kümmere ich mich“, sagte die Waldfee ruhig. „Holz zu Holz. Meine Bäume werden sich freuen.“
„Sehr schön“, erwiderte Maria. „Dann wäre das auch geklärt. Noch Fragen?“
„Ich habe eine“, meldete sich Linda und ignorierte, dass ich unwillkürlich meine Augen verdrehte. „Wie überreden wir die Piraten, bei dem Ganzen mitzuspielen?“
„Das ist Herr Muts Part“, antwortete Maria. Alle sahen mich an.
Ich zog dezent die Augenbrauen hoch. „Darüber haben wir eigentlich noch gar nicht gesprochen.“
„Hast du einen anderen Vorschlag?“
Seufzend schüttelte ich den Kopf. Bedauerlicherweise hatte sie wohl recht. Wenn eine der Hexen bei Soger auftauchte, womöglich allein, würde das übel enden. Und wenn ich dabei wäre, dann könnte ich das gleich selbst übernehmen.
„Also gut, bereitet hier alles vor, während ich die Piraten hole“, sagte ich und seufzte erneut.
„In Ordnung, Herr Mut. Und bitte, geh nicht zu Fuß diesmal, das dauert zu lange.“
„Ich kann ihn fliegen!“, bot Linda an, wofür sie zu meiner großen Freude wütende Blicke von Lola erntete.
„Dich brauchen wir hier“, erwiderte Maria streng. „Herr Mut beherrscht durchaus auch andere Arten der Fortbewegung, nicht wahr? Er tut immer so bescheiden, aber er ist ein Ideengeist, er gehört zu den ältesten und mächtigsten Wesen unserer Welt.“
Ich seufzte zum dritten Mal und Maria lächelte mich an. Ich nickte schließlich und begab mich zu Soger.
Was für ein gewisses Erschrecken seinerseits sorgte, denn ich materialisierte mich unmittelbar in seiner Kajüte.
„Der Ideengeist!“, rief er, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte und hob seinen Kelch vom Boden auf. „Wo hast du denn deine augenschmeichelnde Begleiterin gelassen?“
Augenschmeichelnde? Ich schloss kurz die Augen, um nichts Unbedachtes zu sagen, denn das wäre in diesem Moment nicht sehr hilfreich und unserem Plan wenig zuträglich gewesen.
„Sie bereitet sich darauf vor, euren Wunsch zu erfüllen“, erwiderte ich nach einigen Sekunden, in denen Soger seinen Kelch wieder voll gemacht hatte.
„Was gibt es da vorzubereiten? Den Gral herbringen, mir geben …“
„Das geht nicht und das wird nicht geschehen.“
Soger ließ den Kelch auf den Tisch krachen und erhob sich langsam.
„Ich habe das Gefühl, du willst mich nicht verstehen“, sagte er. „Wenn ich den Gral nicht bekomme …“
„Du hörst mir jetzt zu“, unterbrach ich ihn. „Ihr wollt gar nicht den Gral haben, sondern euer Leben zurück. Was interessiert euch da der Gral? Und weißt du, wie ihr die Macht des Grals beschwören könnt?“
„Das finden wir heraus!“
„Da irrst du dich. Es ist der Gral der Rheinhexen, nur die Rheinhexen sind in der Lage, ihn zu beschwören. Sie sind bereit, euch zu helfen, aber sie geben den Gral nicht her. Ihr bekommt euer Leben zurück, danach geht ihr wieder. Das ist unser Angebot. Wenn ihr es ablehnt, gibt es einen Krieg, in dem ich auf der Seite der Hexen und der Menschen kämpfen werde. Weißt du, was das bedeutet?“
Natürlich wusste er das. Ich sah es ihm genau an, und mir war klar, dass jeder Geist, der nicht gerade in den letzten Wochen in diesen Zustand geraten war, ganz genau wusste, zu was Ideengeister in der Lage sind, wenn man sie reizt. Ideengeister sind sehr friedfertig, denn sie wollen durch ihre Ideen wirken, aber Maria hatte es richtig erkannt, dass Ideengeister die ältesten und mächtigsten Wesen dieser Welt sind. Sie hatten diese Welt mit ihren Ideen zu dem gemacht, was sie war, eine Tatsache, die sie teilweise durchaus bereuen, doch davon unabhängig verfügen Ideengeister über weitere Kräfte, die zu nutzen sie vermieden, wenn es nicht wirklich sehr, sehr wichtig war.
Wie jetzt.
„Darfst du das überhaupt, für die Menschen kämpfen?“, fragte Soger schließlich provozierend.
„Wer soll es mir denn verbieten? Ich schlage vor, wir lassen dieses Geplänkel und reden über das Wesentliche. Die Fakten liegen auf dem Tisch, nun ist es an dir zu entscheiden. Danach kehre ich zurück zu den Hexen, und was danach geschieht, hängt einzig und allein von deiner Antwort ab. Wie also lautet deine Entscheidung?“
Ich sah ihm an, wie er mit sich kämpfte, für mich durchaus nachvollziehbarerweise. Zumindest wenn ich die Angelegenheit von seiner Warte aus betrachtete, was ich jedoch nur tat, um sein Handeln zu verstehen. Mit dem, was er tat, war ich darüber hinaus nicht einverstanden, ich missbilligte es sogar. Dies machte es mir leicht, entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten so unbarmherzig aufzutreten. Ich gestehe, ich orientierte mich dabei an meiner Freundin Fiona, die das bis zur Perfektion beherrschte.
„Also gut, ich bin einverstanden“, sagte Soger schließlich. „Die Hexen erwecken uns wieder zu lebenden Menschen, danach segeln wir fort.“
„In Ordnung, so machen wir es“, antwortete ich wider besseres Wissen. Sie würden nicht davonsegeln, das stand auf jeden Fall fest. Sobald sie wieder zu gewöhnlichen Menschen verwandelt sein würden, könnten sie ihre Schiffe nicht einmal mehr sehen, geschweige denn auf ihnen fahren. Wie alle anderen Normalsterbliche auch.
Aber das verriet ich ihm an dieser Stelle lieber nicht.
Ich kehrte zu den Hexen zurück, um ihnen die neueste Entwicklung mitzuteilen, außerdem galt es zu besprechen, wie wir vorgehen wollten. Zum Beispiel stellte sich durchaus die Frage, wo die Beschwörung stattfinden sollte.
Genauer gesagt, Maria stellte diese absolut berechtigte Frage.
„Auf einem der Schiffe“, antwortete ich.
„Aber ist das nicht zu gefährlich?“, fragte Lola mit großen Augen.
„Inwiefern?“
„Nun, sie könnten uns angreifen und den Gral rauben nach der Verwandlung!“
„Ganz sicher nicht“, erwiderte Linda und zog ihr Schwert.
Irgendwie erinnerte sie mich an die bereits erwähnte Fiona.
„Das wird nicht nötig sein“, sagte ich ruhig und unterdrückte ein Lächeln. „Sobald wir sie verwandelt haben, werden ihre Schiffe für sie unsichtbar und unberührbar und sie fallen ins Wasser.“
„Oh!“, rief Lola strahlend. „Du bist einfach genial, Herr Mut!“
„So weit würde ich nicht gehen, meine Liebe. Aber ich bin ein Ideengeist, und was wäre ein Ideengeist ohne Ideen?“
„Das ist wohl wahr“, bemerkte Maria und schaffte es nicht ganz, ein Grinsen aus ihrem Gesicht zu vertreiben. „Ich gebe jedenfalls zu, dein Plan klingt inzwischen recht ansprechend.“
„Wieso inzwischen?“, erkundigte sich Lola aufgebracht.
Ich legte eine Hand auf ihre Schulter. „Alles in Ordnung. Wir möchten uns jetzt lieber auf unsere Aufgabe konzentrieren, was meinst du?“
Sie atmete tief durch, dann nickte sie. „Ja, du hast natürlich recht.“
Maria musterte mich nachdenklich. Vermutlich fragte sie sich, genau wie ich, wer hier eigentlich auf wen irgendwelche Verführungszauber bewirkte. Selbstverständlich hatte ich in meinem sehr langen Leben die eine oder andere, auch großartige Liebe erlebt, insofern fand ich die Situation im Grundsatz nicht ungewöhnlich. Allerdings hatte ich es dabei noch nie mit einer Verführungshexe zu tun.
„Nun, wenn ich das richtig sehe, ist alles geklärt, was noch bleibt zu tun, ist das Tun“, sagte Adelheid von Báthory.
„Ganz recht“, bestätigte Maria mit einem Nicken. „Daher schlage ich vor, dass wir den Gral holen und dann begeben wir uns zu Soger.“ Sie erschauderte, wohl unwillkürlich.
Wir einigten uns darauf, dass sie das alleine tat, um kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Wir warteten zwischenzeitlich im Stadion, wenngleich wir leider nicht lange warten mussten. Leider, denn Lola kam auf die Idee, sich an mich zu drücken, was erstens bewies, dass nicht nur Ideengeister Ideen haben konnten und andere nicht nur ebenfalls Ideen, sondern sogar ausgesprochen gute Ideen haben konnten.
Ich seufzte also, als Maria wieder in unserer Mitte erschien, natürlich nur bildlich gesprochen
Danach begaben wir uns zu den Piraten.

Mehr über den Autor: Zsolt Majsai