Als ich das Café von Kerstin betrat, war sie verständlicherweise ziemlich erstaunt.
“Herr Mut, mit Ihnen habe ich gar nicht mehr gerechnet!”, rief sie.
“Ja, ich war ziemlich lange nicht mehr in Linz”, erwiderte ich. “Das tut mir ja auch leid. Aber, um ehrlich zu sein, ohne das Café gab es keinen Grund für mich, nach Linz zu kommen.”
“Das kann ich mir nicht vorstellen”, sagte sie, während sie ihre Maske zurechtzupfte. “Übrigens, ich weiß ja, dass Sie unsterblich sind und Ihnen Corona nichts anhaben kann, aber das wissen die Passanten nicht. Es wäre mir lieb, wenn Sie Ihre Maske aufsetzen würden. Das tut mir leid.”
“Mir auch. Doch keine Sorge, niemand außer Ihnen sieht mich.”
“Oh! Dann denken die Leute ja, ich führe Selbstgespräche!”
Hm. Das war natürlich auch nicht das, was ich wollte. Seufzend holte ich also meine Notfallmaske hervor und setzte sie auf. Dann wartete ich einen Augenblick ab, in dem niemand am Geschäft vorbei ging und machte mich sichtbar.
“Lola wollte sowieso gleich kommen, die kann sich nicht unsichtbar machen. Daran habe ich vorhin nicht gedacht. Ich finde es übrigens sehr schade, dass es das Café nicht mehr gibt.”
“Ich auch”, nickte sie. “Aber bei den aktuellen Auflagen geht es im Moment einfach nicht.”
“Nun, irgendwann kommen auch andere Zeiten”, sagte ich, obwohl ich es eigentlich besser wusste. Nicht dass ich in die Zukunft sehen könnte. Aber ich kenne die Menschen. Es wird noch sehr lange dauern, bis die “besseren Zeiten” kommen. Was ich Kerstin natürlich nicht verriet. Keinem Menschen verriet ich es. Mit Lola sprach ich gelegentlich darüber. Es ist ja nicht so, dass die schlechten Zeiten 2020 angefangen hätten. Sie zeichnen sich schon seit Jahrzehnten ab. Um ganz genau zu sein, Menschen und gute Zeiten schließen sich gegenseitig aus. Menschen brauchen das Drama wie die Luft zum Atmen, das haben sie in den letzten Jahrtausenden immer wieder eindrücklich gezeigt.
Doch das ist nichts, worüber ich mit Kerstin oder einem anderen Menschen sprechen würde. Mit Fiona ja, aber sie ist auch kein gewöhnlicher Mensch und weiß das alles sowieso auch ohne mich.
“Ich hoffe es”, bemerkte Kerstin. “Sprechen wir doch von etwas Schönerem! Treffen Sie sich zum ersten Mal mit Lola seit dieser Geschichte, die so viel Aufsehen erregt hat?”
“Nein, wir sehen uns häufiger. Sie ist ja inzwischen lizenzierte Hexe.”
“Lizenziert?” Kerstin wirkte verwirrt.
“Sie hat ihre Einweihung geschafft, sie ist ja letztes Jahr 100 geworden.”
“Ach so! Das war gerade nur Ihr ganz spezieller Humor!”
“So speziell ist er doch gar nicht”, protestierte ich. “Einen speziellen Humor hätte ich, wenn ich behaupten würde, ich verstünde die Welt. Das wäre sehr speziell.”
“Inwiefern?”
“Weil ich in Wahrheit die Welt eben nicht verstehe?”
“Verstehen Sie die Welt wirklich nicht? Irgendwie verstehe ich Sie grad nicht, Herr Mut.”
Ich seufzte. Anscheinend hatte ich Kerstin ungewollt etwas durcheinandergebracht. In letzter Zeit schaffte ich es häufig, die Menschen durcheinanderzubringen. Es war ja auch wirklich nicht schwer, wenn man bedenkt, welches mediale Höllenfeuer auf sie einprasselte. Nach dem Verschwinden Trumps aus dem Weißen Haus wurde es zwar minimal besser, aber inzwischen schwappt die höchste Welle der Neuzeit an Informationsüberflutung über die armen Menschen. Natürlich nicht überall auf der Erde, aber speziell in Deutschland ist es besonders schlimm. Nicht nur dort, aber dort eben besonders. Vielleicht wollen die Deutschen verhindern, jemals wieder so uninformiert zu sein wie zu Zeiten des Nationalsozialismus. Ich habe nur das Gefühl, sie übertreiben es ein wenig.
“Die Art des Umgangs mit Corona ist aus der Perspektive eines Unsterblichen etwas eigenartig”, erklärte ich. “Ich habe mich darüber auch mit anderen unterhalten. Mit Lola, zum Beispiel. Oder Toll Schreiber. Und einigen anderen … Wesen, die Corona eigentlich überhaupt nicht betrifft, weil ein Virus ihnen grundsätzlich nichts anhaben kann. Vampire, Werwölfe sind auch darunter. Eigentlich. Denn indirekt betrifft es sie dadurch, dass die Menschen ihre Art zu leben gerade verändern und plötzlich nach einem Virus ausrichten. Für Wesen wie uns ist das etwas überraschend, da wir ja wissen, dass es Viren schon länger als Menschen gibt. Dieses Corona-Virus ist ja nicht das erste seiner Art, aber das erste, das so eine Aufmerksamkeit erfährt. Und ich frage mich, was passieren würde, käme es zu einem Ausbruch mit einem richtig gefährlichen Virus, dessen Sterblichkeit bei 20 oder 50 % oder mehr liegt. Solche Viren gibt es ja durchaus. Natürlich, dann würde die Pandemie ganz anders ablaufen, denn innerhalb kurzer Zeit würde die Hälfte der Menschheit aussterben und die andere Hälfte hätte keine Zeit für mediale Panikreaktionen. Sie wäre mit dem Überleben beschäftigt. Eigentlich ist Corona ein Geschenk, denn die Menschen können das Gefühl haben, Teil einer besonderen Geschichte zu sein, wie sie diese sonst aus Katastrophenfilmen kennen, ohne sich wirklich in Gefahr zu befinden.”
“Okay”, sagte Kerstin nach einem Moment. “Ich bin etwas überrascht, das von Ihnen zu hören. Ihnen kann man ja schließlich nicht vorwerfen, zu den Querdenkern zu gehören.”
“Doch”, erwiderte ich. “Allerdings zu den echten.”
“Ja, natürlich”, sagte sie lächelnd. “Die Querdenker aus den Medien sind nicht unbedingt klassische Querdenker. Aber ich habe das Gefühl, Sie verstehen die Welt schon sehr gut!”
“Vielleicht. Vielleicht hat es aber nur damit zu tun, dass ich die Menschen schon seit Jahrtausenden begleite. In gewisser Weise wiederholt sich alles. Im Moment zum Beispiel baut sich eine Stimmung auf, die ich damals zu Beginn der Hexenverfolgung gespürt habe. Natürlich ist es nicht dasselbe, aber dieselbe Stimmung. In solchen historischen Momenten geht es immer um Sündenböcke, die eine Masse an Menschen braucht, um die Illusion zu haben, die Welt zu verstehen, um nicht das Gefühl der Hilflosigkeit und der Unsicherheit, der Ungewissheit, ertragen zu müssen. Dafür ist sehr vielen Menschen alles recht.”
“Wow! Aber sind wir nicht zu zivilisiert inzwischen?”
“Das wissen Sie doch besser, Kerstin. Denken Sie doch allein daran, was im ehemaligen Jugoslawien passiert ist, nachdem die Umklammerung der Sowjetunion wegfiel. Hatte das etwas mit Zivilisation zu tun? Oder schauen Sie sich den Nahen Osten an. Dort waren die Menschen mal viel weiter als in Europa. Und jetzt?”
“Ich verstehe durchaus. Aber bedeutet das, es gibt gar keine Hoffnung?”
“Selbstverständlich gibt es Hoffnung. Die gibt es immer. Das genau ist das Prinzip der Hoffnung. Es geht darum, dass die Menschen gerne Gewissheit und Sicherheit hätten und nicht akzeptieren wollen, dass es beides niemals geben wird. Sie sind ein Teil der Welt, nicht ihre Herren und Beherrscher. Es gibt unendlich viel außerhalb dessen, wovon die Menschen jemals auch nur wissen werden. Gleichzeitig wurden sie damit bestraft, neugierig zu sein und planen zu wollen, alles unter Kontrolle haben zu wollen.”
“Bestraft? Von wem? Von Gott?”
“Nun, ich könnte jetzt sagen, von den Göttern. Sie wissen, was ich meine. Und vielleicht stimmt das auch in gewisser Weise, obwohl die sich eher auf Fiona eingeschossen haben. Nein, eigentlich bestrafen sich die Menschen selbst damit. So, da kommt ja Lola!”
Wir schauten beide zur Eingangstür, durch die Lola tänzelnd ankam und dann schnurstracks zu Kerstin ging, um sie zu umarmen. Ich überlegte kurz, ob ich eingreifen sollte, doch dann verzichtete ich darauf. Von draußen beobachtete uns ja niemand und es gab keine Gefahr. Lola konnte weder krank werden noch irgendein Virus übertragen. Viren und Magie vertragen sich nicht besonders gut.
Danach zog mir Lola die Maske herunter und gab mir einen Kuss. Anschließend richtete sie meine Maske wieder und streifte selbst auch eine über. Schwarz, mit einer Hexe vorne drauf, die auf einem Besen durch die Gegend fliegt.
“Das ist keine FFP2-Maske, scheint mir”, bemerkte Kerstin.
“Nein, sie ist nur verhext!”
“Verhext?”
“Ja, nur für Hexen.”
“Ach so. Sie haben sich mit Herrn Muts Humor infiziert. Wenigstens ist das ungefährlich.”
“Da bin ich mir nicht so sicher”, erwiderte sie schelmisch. “Herr Muts Humor beeinflusst alle, die davon angesteckt werden. Die Welt wird bunter und chaotischer.”
“Wie bitte?!”, fragte ich.
“Ja, ich glaube, sie hat recht”, bestätigte Kerstin. “Nun, ich habe noch Chili Bird´s Eye da. Möchten Sie eine Trinkschokolade zum Mitnehmen, Herr Mut?”
“Nein! Eine Schokotarte würde ich eher nehmen.”
“Das geht leider nicht. Im Moment müssen Sie darauf verzichten. Sagen Sie beide mal, Sie sind doch nicht nur wegen mir nach Linz gekommen, oder?”
“Das stimmt”, antwortete ich zögernd. “Ein Freund von mir hat mich um einen Gefallen gebeten und wir haben die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, um Münchhausen gleich uns beide nach Linz zu ziehen.”
Die beiden schauen mich etwas irritiert an.
“Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich”, sagte schließlich Lola. “Übrigens weiß ich auch noch nicht, um was es geht. Aber ich werde es bestimmt noch erfahren.”
“In der Tat”, nickte ich. “Liebe Kerstin, ich habe mich sehr gefreut, Sie zu sehen. Ich hoffe, bis zum nächsten Mal dauert es nicht so lange.”
“Wie meinen Sie das? Ich dachte, Sie erzählen uns jetzt, um was es geht!”
“Das wäre viel zu gefährlich für Sie, Kerstin. Wenn Ihnen dadurch was zustieße, würde ich mir das bis zum Lebensende nicht verzeihen. Also für einen sehr, sehr langen Zeitraum!”
Sie war unbegeistert, das sah ich ihr an. Aber es war besser so.
Jedenfalls dachte ich das zu jenem Zeitpunkt. Wie schon gesagt, Ideengeister können nicht in die Zukunft sehen. Sonst wäre ich ganz schnell davongerannt. Oder uns alle wegteleportiert.
Stattdessen nahm das Unheil seinen Lauf.